Gedenkmarsch anläßlich der 74. Jährung der Reichspogromnacht

veröffentlicht am: 9 Dez, 2012

Am Morgen des 10. November 1938 wurden in Gießen, wie in vielen anderen Städten und Gemeinden in Deutschland, Synagogen, jüdische Geschäfte und Häuser von Nazis und ihren Anhängern niedergebrannt. Menschen wurden geschlagen, gejagt und ermordet. Die Bevölkerung sah weg oder klatschte Beifall und beteiligte sich an den Pogromen. Dieses dreitägige Pogrom, das von den Nazis zynisch Reichskristallnacht genannt wurde, war ein wichtiger Schritt zur Festigung der Macht der Faschisten.
Die von den Nazis von langer Hand vorbereitete Aktion hatte zwei Ziele. Die ökonomische Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung und die Einschüchterung von möglicher Opposition. Da Widerstand gegen dieses verbrecherische Vorgehen ausblieb, erwies sich dieses Pogrom als ein wesentlicher Schritt zur Festigung der faschistischen Diktatur. Es folgte der 2. Weltkrieg mit über 50 Millionen Toten und der Holocaust, die industrielle Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas.

Was dieser mehrtägige Pogrom für Gießen bedeutete, lässt sich hier nachlesen:
http://www.uni-giessen.de/cms/kultur/universum/geschichte/geschichte-giessens/die-nacht
Um den Opfern dieses staatlich organisierten Terrors gegen die jüdische Minderheit in Gießen und Deutschland zu gedenken, aber auch um gegen heutigen Rassismus und Antisemitismus zu protestieren, sind am 09.11.2012 mehrere hundert Demonstranten durch Gießen gezogen. An mehreren historischen Orten der Geschehnisse vor 73 Jahren wurde Halt gemacht und Reden von verschiedenen antifaschistischen Organisationen gehalten.
Als Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend waren wir wie im letztem Jahr auch (http://comandante.twoday.net/stories/49609591/) ebenfalls vertreten. Im folgenden dokumentierten wir die Rede, welche von einem Genossen im Namen der SDAJ Gießen/Marburg gehalten wurde:
„Liebe Anwesende,
Seit Jahrhunderten wurden jüdische Menschen in der europäischen Geschichte unterdrückt, ausgeschlossen, verachtet und geächtet, so waren Sie Sündenböcke für die Pest im Mittelalter, ihnen wurde vorgeworfen die Brunnen vergiftet zu haben. Sie waren entrechtete Menschen, die sich nur mit den „schmutzigen“ Arbeiten abfinden durften, so zum Beispiel mit dem Geldverleih, was dazu führte das Juden und Jüdinnen über Epochen hinweg bezichtigt wurden sich ausschließlich für Gold und Profit zu interessieren. Viele Verschwörungen rankten sich um das sogenannte „Finanzjudentum“ oder den „jüdischen Bolschewismus“, welche nun als Sündenbocke für die Weltwirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts hinhalten mussten. So warf man der jüdischen Bevölkerung vor sie würden das Weltgeschehen aus dem Hintergrund kontrollieren. Nachdem die NSDAP unter Adolf Hitler 1933, die Macht im Staate übernahm, wurde der Antisemitismus staatlich betrieben. Dabei schreckten die Nazis vor nichts zurück, sie füllten die Lehrpläne mit antisemitischen und pseudowissenschaftlichen Rassentheorien, boykottierten jüdische Geschäfte und beschränkten deren öffentliches Leben. 1935 kam es dann zu den Nürnberger Rassegesetzen, die den Juden und Jüdinnen ihre politischen Rechte entzogen, sie wurden aus allen öffentlichen Ämtern entlassen und auch sogneannte Mischehen zwischen „Ariern“ und „Juden“ wurden verboten. Im Oktober 1938 kam es dann zu einer Abschiebung mehrerer verhafteter jüdischer Bürger an die polnische Grenze, die von der polnischen Regierung aber auch nicht aufgenommen wurden. Sie waren dazu verdammt auf unbestimmte Zeit im deutsch-polnischen Niemandsland herumzuirren, bis die polnische Regierung doch die Grenzen öffnete. Unter jenen Personen befanden sich auch die Eltern Herschel Grünspans, der am 7. November 1938 in Paris den Gesandtschaftsrat Ernst von Rath, aus Rache für das Leid seiner Angehörigen, erschoss. Goebbels nutzte dieses Attentat um ein geplantes Pogrom, schier unvortellbaren Ausmaßes, loszubrechen. Braune SA- und SS-Truppen stürmten am Abend des 9. November daraufhin jüdische Synagogen, Geschäfte und Wohnungen und setzen diese auch in Brand. Der Polizei und der Feuerwehr wurde vorher der Befehl gegeben, die Brände nur dann zu löschen, wenn sie auf die nahestehenden Häuser übergreifen sollten. Im Laufe dieser Pogrome wurden mehrere hundert Synagogen niedergebrannt und mehrere tausend Geschäfte zerstört. Auch zu sehr vielen Morden kam es in dieser Nacht. Allerdings war die Vernichtung jüdischen Eigentums nur eine Seite des Pogroms. So führte es auch zu einer riesen Verhaftungswelle, in der 40.00 jüdische Bürger verhaftet wurden und 10.000 alleine direkt nach Buchenwald kamen- ohne jeden Prozess oder Grund. Am Ende gab man der jüdischen Bevölkerung selbst die Schuld für die Pogrome und sie wurde dazu verpflichtet für die Kosten aufzukommen, was einem gleichzeitigen Ausschalten aus der Wirtschaft entsprach. Diese Pogrome fanden in fast allen deutschen Städten statt, auch in Gießen wurden damals die beiden Synagogen niedergebrannt, die jüdischen Geschäfte in der Neustadt zerstört und Morde an jüdischen Bürgern begangen. Ein Großteil der deutschen Bevölkerung sah dabei tolerierend zu oder war am sogenannten „Volkszorn“ aktiv dabei, es wurde kaum Widerstand geleistet, denn die organisierte Arbeiterklasse war zerschlagen worden, die Kpd, die SPD und die Gewerkschaften verboten und die Indoktrination hatte Erfolg. Das Pogrom wurde von den Hitlerfaschisten auch als Test benutzt, um herauszufinden wie stark der Antisemitismus mittlerweile in der Arbeiterklasse verbreitet war.
Wir haben uns nun hier versammelt, um an diese unmenschlichen, ja sogar schon barbarischen Taten zu erinnern. Das Gedenken an diese Pogrome muss aufrechterhalten werden, denn wer aus der Geschichte nicht lernt, ist dazu verdammt sie zu wiederholen. Wir dürfen uns aber nicht nur auf das Gedenken beschränken! Wie uns die Geschichte gezeigt hat, ist der Faschismus deutschen Schlages aus dem demokratischen System der Weimarer Republik enstanden, dass heißt, solange es noch Neonazis und Faschisten in unserem Land gibt, besteht auch die Möglichkeit das wir wieder zu solch einer Barbarei zurückkehren können, wenn sich diesmal nicht alle Menschen aktiv am Antifaschismus beteiligen. Deshalb müssen wir, die Leute die sich hier versammelt haben, den Neonazis Widerstand entgegensetzen. Denn auf den bürgerlichen Staat können wir uns dabei nicht verlassen, wie jüngst die Äffäre um den NSU gezeigt hat. Aber es ist nicht nur der NSU. Der Rechtsterrorismus ist so alt wie die Bundesrepublik selbst. So zum Beispiel der Bund Deutscher Jugend hier in Hessen, die Wehrsportgruppe Hoffmann oder die „Deutschen Aktionsgruppen“. All diese Gruppierungen verübten Attentate mit mehreren Todesopfern. Und eine weitere Gemeinsamkeit haben diese Gruppen auch: der Staat war stets verwickelt in den braunen Terrorismus. Und das ist auch weiterhin so. Der Bundsrepublik mangelt es an staatlichem Antifaschismus – ganz im Gegensatz seines historischen Erbes lässt der Staat Neonaziaufmärsche zu, deckt diese juristisch und erlaubt auch die Gründungen von neonazistischen Parteien, obwohl jüngst bei Hausdurchsuchungen in der Nazi-Szene wieder Waffen und Sprengstoff gefunden wurden. Deshalb liegt es umso mehr an uns, sich den Nazis in den Weg zu stellen, um unsere Grundrechte und unsere Sicherheit zu verteidigen. Nie wieder darf solch eine Barabarei erneut über die Menschheit herziehen.
Die Neonazis sind allerdings genausowenig untätig, wie wir es an diesem Tage sind. Allerdings demonstrieren sie nicht, um die Erinnerung an diese bestialischen Handlungen aufrechtzuerhalten. Nein, sie marschieren um zu provozieren, Geschichtsrevisionismus zu betreiben und um ihre menschenverachtende Propaganda zu verbreiten.
So ist es zumindest morgen, am 10. November in Hünfeld, in der Nähe von Fulda, geplant. Die Faschisten haben sich diesen Ort ausgesucht, weil es dort kaum antifaschistische Strukturen gibt, dennoch hat sich nach kurzer Zeit ein breites Bündnis gegründet, dass kein braunes Gedankengut in Hünfeld tolerieren möchte. Auch wir die SDAJ werden morgen anwesend sein und versuchen zu verhindern, dass sie die Möglichkeit haben ihren Hass zu verbreiten. Wir rufen auch alle hier Anwesenden auf, sich den Nazis morgen in den Weg zu stellen! Denn wer daran interessiert ist, dass Gedenken an die Schrecken des deutschen Faschismus aufrechtzuerhalten, der sollte sich auch aktiv für eine antifaschistisch-demokratische Gesellschaft einsetzen. Denn wie wir alle wissen: Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Vebrechen. Millionen Tote mahnen!“
 

 

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